Die neue Entspannungspolitik
Was einst „Wandel durch Annäherung“ hieß, kann auch heute noch als Richtschnur für die Konfliktlösung dienen.
erschienen in: Frankfurter Rundschau, 30.01.2014.
Von Rolf Mützenich
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am kommenden Wochenende wird wieder
über Werte und Interessen, Eindämmungs- und Entspannungspolitik diskutiert
werden. Syrien, der Iran, die Ukraine und die Umbrüche in den arabischen
Gesellschaften werden ebenso im Fokus stehen wie das Verhältnis zu Russland.
Die Debatte ist ohne die Vorgeschichte der Entspannungspolitik nicht zu
verstehen. Mussten sich Willy Brandt und Egon Bahr von konservativen
Kritikern noch böswillige Angriffe gefallen lassen (Verfassungsbruch,
Ausverkauf deutscher Interessen, Landesverrat), setzte sich in den
Neunzigerjahren zunehmend die Einsicht durch, dass es auch die Ostpolitik
war, die den Kalten Krieg überwinden half. Heutzutage jedoch wird sie
zunehmend auf Kungeleien mit autoritären Machthabern, Wirtschaftsinteressen
und machtorientierte Realpolitik verkürzt.
In einigen Punkten haben die Kritiker recht: Die Entspannungspolitik, die
auf dialektischem Wege den Wandel hatte herbeiführen wollen, verlor in den
Achtzigerjahren den Wandel selbst aus dem Auge. „Stabilität und
Stabilisierung“ verkümmerten zunehmend zum Selbstzweck, während sie in der
ursprünglichen Konzeption als Mittel zur Liberalisierung der kommunistischen
Systeme verstanden worden waren.
Die deutsche Außenpolitik insgesamt, aber insbesondere auch die damalige
Opposition, versäumte es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den
Achtzigerjahren, Kontakte zu den Dissidentenbewegungen in Osteuropa und der
DDR aufzubauen. Im Gegensatz zu diesen konnten sich viele im Westen bis in
den Herbst 1989 hinein offenbar keine andere Ordnung mehr vorstellen als die
von Jalta.
Kritiker verkennen jedoch die Erfolge und das Konzept der
Entspannungspolitik. Der Westen verhandelte sehr wohl hartnäckig und gegen
den erbitterten Widerstand Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in
das Abschlussdokument der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (KSZE). Für die osteuropäischen Dissidenten wurde dieses erzwungene
Bekenntnis der Regierenden zu universellen Rechten zum Hebel im Kampf gegen
die Regime. Die Ostpolitik von Brandt und Bahr war eine auf weite Sicht
angelegte Strategie zur Transformation kommunistischer Herrschaft. Dazu
gehörten die Schaffung von Regeln und Institutionen im Rahmen der KSZE sowie
die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa durch die BRD – damals
noch gegen erbitterten Widerstand der CDU/CSU.
Entspannungspolitik und Wandel durch Annäherung sind heute von
unverminderter Relevanz – gerade in Regionen mit neuen, weltpolitisch
relevanten Krisen. Damals wie heute muss der Außenpolitiker den Dialog auch
mit jenen suchen, deren Herrschaftssystem er verachtet und deren konkrete
Politik ihn empört. Er muss den Status quo anerkennen, um ihn zu verändern.
Das ist mühsam und gibt keine gute Presse. „Hört auf zu reden, handelt
endlich!“ Wer verspürt angesichts der Massaker in Afrika und in Syrien und
angesichts der Proteste in der Ukraine nicht den Wunsch nach schnellen
Lösungen? Im Gegensatz zu denen, die das Privileg haben, Analysen und
Handlungsempfehlungen auf dem Reißbrett und ex post zu entwerfen, muss der
Außenpolitiker in einer konkreten Situation handeln. Verabredungen mit
illegitimen und undemokratischen Herrschern sind unvermeidbar; aber man
sollte versuchen, sie so zu gestalten, dass sie auf Öffnung und
Transformation zielen. Selbstbewusste Außenpolitik muss sich nicht zwischen
Regime und Gesellschaft entscheiden. Die Entspannungspolitik hat in
Osteuropa durch das beharrliche Angebot zum Dialog, durch Empathie und
geschicktes Verhandeln den inneren Wandel befördert.
In Zeiten neuer Spannungen brauchen wir eine neue Entspannungspolitik. Nach
der vorläufigen Verständigung mit dem Iran und den hartnäckigen
Vermittlungsbemühungen von John, Kerry im Nahost-Friedensprozess öffnet sich
in diesem Jahr ein einzigartiges Fenster der Gelegenheiten für die Region.
Die Syrien-Gespräche von Montreux und Genf könnten der Auftakt für erste
direkte Hilfen in Syrien sein, aus denen sich später politische Chancen
einer Konfliktbearbeitung ergeben. Dabei bleibt Putins Russland ein
schwieriger Partner, den wir gleichwohl zur Lösung vieler Probleme brauchen.
Russland hat in Folge der Annäherung durch die Entspannungspolitik eine
Vielzahl internationaler Konventionen unterzeichnet. Was also spricht
dagegen, die russische Rhetorik zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,
Korruptionsbekämpfung, Abrüstung und der zentralen Rolle der Vereinten
Nationen beim Wort zu nehmen? Russland an seinen Selbstverpflichtungen zu
messen, ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten.
Für Menschenrechte und Demokratie kann wiederum nur glaubhaft eintreten, wer
diese nicht für eine Ausgeburt amerikanischen Messianismus hält.
Menschenrechte sind, obgleich eine „Erfindung“ des Westens, dennoch
unteilbar. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat nach nur wenigen Wochen
im Amt gezeigt, wie eine selbstbewusste Außenpolitik aussehen kann. Die
Wirklichkeit ist kompliziert und kluge Außenpolitik muss dieser Komplexität
Rechnung tragen. Deswegen ist die Diskussion, ob deutsche Außenpolitik
werteoder interessengeleitet sein soll, rein akademisch. Interessen und
Werte sind kein Widerspruch – im Gegenteil, sie bedingen sich wechselseitig.
Wir brauchen beides: eine wertebasierte Außenpolitik auf der einen und eine
pragmatische Konzentration auf das Machbare auf der anderen Seite.
Dr. Rolf Mützenich ist stellvertretender Vorsitzender der
SPD-Bundestagsfraktion.